26.03.2019
Sechs Trends für die smarte Fabrik – und drei Herausforderungen
Die vierte industrielle Revolution – oder „Industrie 4.0“ – ist ein Mehrkampf, der nach Exzellenz in mehrere Disziplinen verlangt. Es sind nicht allein Technologien und ihre praktische Umsetzung, die den Weg zur smarten Fabrik bereiten. Auch – oder gerade – die veränderten Geschäftsprozesse und Geschäftsmodelle, die sich selbst in traditionellen Branchen derzeit rapide wandeln, führen zu revolutionär Neuem. Darauf müssen sich mittelständische Unternehmen und global agierende Konzerne gleichermaßen einstellen:
- Business to Business wird zu B2B2C!
- Augmented Reality und virtuelle Realität werden produktiv!
- Realtime Big Data führt zu schnellerer Anpassung!
- Automaten arbeiten Hand in Hand mit dem Menschen (kollaborative Robotik)!
- Künstliche Intelligenz kann die Anwendungswelt grundlegend verändern!
- Das Industrial Internet of Things ist möglich!
So entstehen mehr und mehr Beispiele für die sogenannte Plattformökonomie, in der viele an der Wertschöpfung Beteiligte in gemeinsamen Prozessen zusammenarbeiten und dabei den Lieferanten des Lieferanten und den Kunden des Kunden mit einbeziehen. Damit überschreitet die Wertschöpfung die Fabrikgrenzen und ermöglicht so erhebliche Effizienz- und Reaktionsvorteile. Wenn beispielsweise die Daten über das Konsumverhalten der Kunden nicht erst in die Produktionsplanung des Anbieters, sondern unmittelbar auf den Abruf von Komponenten beim Lieferanten einwirkt, kann deutlich schneller und deutlich kundenorientierter produziert werden. Aus bestehenden Business-to-Business-Beziehungen (B2B) zwischen einem Hersteller und seinem Lieferanten wird so eine B2B2C-Kette, in der das Kaufverhalten der Kunden direkt mit einbezogen wird.
Auch der Einsatz von Systemen für Virtual oder Augmented Reality wird immer konkreter. Im Forschungs- und Anwendungszentrum Industrie 4.0 an meinem Lehrstuhl zeigen wir bereits anschaulich, wie mit Datenbrille oder VR-Brille zusätzliche Informationen zum Fertigungsgeschehen direkt ins Blickfeld des Werkers geliefert werden. Sie kommt zum Beispiel bei der Prozessmodellierung zum Einsatz, wo Fertigungsschritte den jeweiligen Anforderungen entsprechend angeordnet werden. Typisch sind inzwischen auch Anwendungsbeispiele, bei denen etwa Montageanleitungen oder Reparaturinformationen in die Datenbrille eingespielt werden, so dass der Mitarbeiter vor Ort seine Hände frei benutzen kann.
Ein interessantes Beispiel für die Big Data Analyse in Echtzeit habe ich in einem Projekt erlebt, bei dem die Reihenfolgeplanung für einen besonders energieintensiven Prozess nach dem jeweiligen Strompreis ausgerichtet wurde. Durch Realtime Big Data werden Informationen aus unterschiedlichen Quellen zu einem neuen reaktionsschnellen Prozess zusammengefasst. Dabei wurden in einer Laserschneideanlage Bleche unterschiedlicher Dicke aus Aluminium, Stahl oder NiRo-Stahl geschnitten, wobei der Energiebedarf naturgemäß stark schwankte. Anhand der aktuellen Strompreise wurde die Produktionsplanung so modifiziert, dass besonders energiehungrige Prozesse zu Zeiten geringerer Strompreise angesetzt wurden.
Ebenfalls im Forschungs- und Anwendungszentrum Industrie 4.0 kann man miterleben, wie Roboter oder Handhabungsautomaten mit Hilfe von Sensorik und künstlicher Intelligenz mit dem Arbeiter kollaborieren. Dabei geht es nicht nur darum, bestehende Prozesse sinnvoll zwischen Mensch und Maschine aufzuteilen, sondern die Maschine auch die Umgebung so wahrnehmen zu lassen, dass der Mitarbeiter durch die Automatenbewegung nicht verletzt werden kann. Anreichen von Werkzeugen, Halten schwerer Güter oder die Ausführung von Arbeitsschritten übernehmen dabei Roboter, während sie vom Werker begleitet werden.
Damit sind bereits Elemente der künstlichen Intelligenz adressiert, bei der Prozesse nicht festverdrahtet, sondern durch Lernen modifiziert werden können. Learning-Mechanismen sind neben Wissensrepräsentation und Entscheidungsunterstützung (Reasoning-Mechanismen) die drei vielversprechendsten KI-Entwicklungen für die smarte Fabrik. So lassen sich als typische Anwendungsbeispiele Datenstrukturen durch KI-Systeme erkennen und klassifizieren, was bei der Administration von Stamm- und Bewegungsdaten im Unternehmen helfen kann. In der Disposition können nicht nur Routinevorgänge automatisiert werden, sondern ganze Workflows neu zusammengestellt werden, womit der Weg zur Autonomie als nächste Stufe geebnet wird. Zudem können auf der Basis von Kennzahlen automatisierte Hinweis- oder Warnfunktion bei der Steuerung von Geschäftsprozessen unterstützen, wobei die Fähigkeit zur Echtzeit-, Trend- und Fehleranalyse neue Möglichkeiten der Auswertung von Kennzahlen eröffnet. Die Vorhersage von Ereignissen zum Beispiel bei der vorbeugenden Wartung, im Kundenverhalten oder bei der Optimierung bestehender Geschäftsprozesse (Workflows) ist ebenfalls ein attraktiver Ansatz für KI.
Doch alles ist nichts ohne die zugrundeliegende Infrastruktur – das Internet of Things, dessen zentrales Element die IoT-Plattformen sind. Sie sind der Integrationspunkt für Apps (zum Beispiel für Instandhaltung, Prozessoptimierung oder Planung); Plattformen zur Geräteverwaltung, Visualisierung oder für Alarme und Hinweise; sie managen die Speicherung in der Cloud und zur Datensicherung im (eigenen) Rechenzentrum; sie bilden das Gateway für die Kommunikation und Verarbeitung der Prozesse beim Anwender; und sie sind der Sammelpunkt für die Daten von Sensoren und Anlagen.
Diese sechs Top-Trends der kommenden Monate wären schon Herausforderung genug. Doch überall – vor allem aber im Mittelstand – zeigt sich, dass es den Unternehmen schwer fällt, die für die Umsetzung dieser Technologien dringend benötigten Fachkräfte zu rekrutieren oder innerbetrieblich zu qualifizieren. Dabei scheint angesichts von mehr als 50.000 offenen Stellen in der IT die interne Weiterbildung der einzige gangbare Ausweg zu sein. Denn es gilt, nicht nur Technologiekompetenz zu schulen, sondern auch das Bewusstsein für den kulturellen Wandel, der mit Industrie 4.0 einhergeht, zu scharfen. Ein neuer Methoden-Mix aus sozialen, prozessorientierten, interaktiven Skills gehört ebenso zum Anforderungsprofil von morgen.
Zu den Konsequenzen der Digitalisierung gehört aber auch die zunehmende Gefahr, die von außen über das Internet auf die Unternehmen und deren Prozesse lauern. Cybersicherheit hat dabei nicht nur einen technischen Aspekt. Cybersicherheit ist eine Managementaufgabe und braucht Mitarbeiter, die für die Gefahren aus dem Netz sensibilisiert sind. So müssen die Beziehungen zu externen Akteuren ebenso abgesichert werden wie der Zugang und Zugriff über interne und externe Mitarbeiter.
Ein letzter Aspekt vervollständigt die Herausforderungen durch die vierte industrielle Revolution: Je mehr Daten über das Geschehen und die Akteure im Netzt entstehen, desto vollständiger wird der digitale Schatten des physischen Geschehens im Netz. Das hat große Vorteile, weil mit dem „digitalen Zwilling“ Prozesse und Eigenschaften simuliert werden können, ohne den laufenden Betrieb zu unterbrechen. So kann vorausschauende Wartung schon allein dadurch verbessert werden, dass auf der Basis des digitalen Schattens bessere Vorhersagen über den Betriebszustand und Status der Maschine getätigt werden können.
Sechs Trends und drei Herausforderungen werden in den kommenden Monaten unsere Aktivitäten rund um Industrie 4.0 bestimmen. Die Aufgaben sind immens, doch wer sie nicht angeht, der gefährdet seine Zukunft.